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Die deutsche Vorstadt im 17. Jahrhundert
(Teil 2 von 7)
Nikon
Auf Verlangen des Patriarchen der russischen Kirche, Nikon, erließ Zar Alexei I. am 4. Oktober 1652 einen rigorosen Ukas über die Aussiedlung aller aus Westeuropa Stammenden nicht zur orthodoxen Kirche übergetretenen Ausländer hinter die Stadtgrenzen Moskaus, am Fluss Jausa, in eine Art Ghetto, dorthin, wo sich früher die alte Ausländervorstadt befand, die nunmehr den Namen "Neu-Deutsche" oder einfach "Deutsche Vorstadt" (Novoinozemskaja) bekam. Russischen Orthodoxen und Juden war es jedoch ausdrücklich verboten, in der Sloboda zu wohnen.
Alle bis zu diesem Zeitpunkt in der Stadt wohnenden Nichtorthodoxen hatten binnen kurzer Zeit die Stadt zu verlassen. Mehr als 100 Holzhäuser und drei Kirchen wurden in Moskau abgerissen und in der Siedlung wieder aufgebaut.
Dieses Ereignis beschreibt Adam Olearius1 folgendermaßen:
,,Daß / wer unter den Deutschen sich wolte auff Russisch tauffen lassen / möchte in der Stadt wohnen bleiben / wer sich aber das zu thun weigerte / sollte innerhalb kurtzer Zeit mit der Wohnung zur Stadt hinaus vor die Pokrofki Pforte / nach der Kukkuy2; an den Ort / wo vor viertzig und mehr Jahren die Deutschen auch jhre Wohnung alleine gehabt ...."
Moskau im 17. Jahrhundert
Von der Stadtgrenze Moskaus war die Neu-Deutsche etwa einen halbstündigen Fußmarsch entfernt.
An dem neuen Ort wurden die Grundstücke für die Höfe kostenlos verteilt und erfolgte gemäß des Dienstranges oder der sozialen Stellung der Eingewanderten.
Der privilegierten Schicht gehörten Generäle, Obristen, Majore und Ärzte an. Ihr folgten die anderen Offiziere, Apotheker, Künstler und Handwerker sowie zuletzt alle „geringen diensttuenden Deutschen".
russischer Musketier
Den Soldaten, Ärzten und Handwerksmeistern, die sich „im Staats-dienst" befanden, wurden die Hofgrundstücke nach dem militärischen Grad oder der bekleideten Stellung zugeteilt und ihre Größe schwankte zwischen 86 m2 und 1.440 m2.
Gegen 1655 waren in der Vorstadt einschließlich der zerlegten und der von den Ausländern aus der Stadt mitgebrachten bereits an die 150 Häuser errichtet worden.
Die Slobodabewohner hatten es fortan leichter. Sie fühlten sich nun weit behaglicher und sicherer als in der Hauptstadt, die ja unaufhörlich der Feuergefahr ausgesetzt war.
Sie konnten ihre Lebensumstände ungestört ihren althergebrachten Traditionen anpassen. Sie durften wieder westliche Kleidung tragen und Häuser und Kirchen nach westlichem Vorbild einrichten.
Anfangs unterschied sich das äußere Erscheinungsbild der Häuser und Höfe in der Deutschen Vorstadt nicht wesentlich von dem der russischen, weil ein wesentlicher Teil der Bauten aus Moskau mitgebracht worden war, wo die Höfe der Ausländer sich nicht von der allgemeinen baulichen Gestaltung abhoben. Im ausgehenden 17. Jahrhundert hatte die Sloboda schließlich, wie westliche Besucher feststellten, dem Gepräge einer westlichen Stadt angenommen.
Den Sloboda-Bewohnern wurde das Recht auf uneingeschränkte Ausübung des religiösen Kultes (mit Ausnahme des katholischen3) erteilt; zwei deutsche lutherische und je eine holländische und englische Gemeinde unterhielten eigene Kirchen, Lehrer und Schulen. Zwar gehörte auch ein eigener Ordnungsdienst zu den Selbstverwaltungsrechten der Ausländersiedlung, doch die Gerichtsbarkeit blieb den russischen Behörden mit ihrer Gesetzgebung vorbehalten. So war die Gesandtschaftskanzlei für Kaufleute und ausländische Besucher, die Ausländerkanzlei für Dienstverpflichtete zuständig. Beide Ämter waren sowohl Verwaltungs- als auch Gerichtsbehörden.
1 Adam
Olearius (*1599 in Aschersleben † 1671 Schloss
Gottorf/Schleswig) war Gelehrter und Handelsdiplomat. Nach seinem Studium
der Theologie, Philosophie und Mathematik in Leipzig gelangte der junge
Gelehrte 1633 an den Hof des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf.
Der Herzog, der eine wirtschaftliche Anbindung Norddeutschlands mit Persien und Russland
plante, stattete eine Gesandtschaft aus, die am 6. November 1633 in Hamburg
abfuhr. Das erste Ziel dieser Delegation war Moskau, wo sie mit Zar Michael
I. ein Handelsabkommen abschließen wollte. Da der Zar aber äußerst
unrealistische Vorstellungen darüber hatte, scheiterte die Gesandtschaft
in ihrem eigentlichem Auftrag.
Über seine Reise berichtete Adam Ölschläger, wie Olearius er eigentlich
hieß, in Moskowitische und persische Reise: die holsteinische Gesandtschaft
1633-1639, die 1647 erstmals in Deutsch erschien. Nach Herbersteins
Reisebeschreibungen war dies der bedeutendste Bericht über Russland.
2 Kukkuy hieß die deutsche Vorstadt, die nicht weit von Moskau an dem Fluss Jausa entstanden war. Der Name “Kuckui" stammt von dem Ausruf des Erstaunens ..kuck hie!", das den deutschen Frauen entschlüpfte. wenn sie etwas in Staunen versetzte. ,.Kuck hie" war aber dem russischen Schimpfwort „chuj" (Schwanz) sehr ähnlich und wurde von den Einwohnern der Vorstadt als Beleidigung empfunden. Daraufhin verbot der Zar den Gebrauch dieses Schimpfwortes unter Androhung der Strafe des Auspeitschens und ließ die Vorstadt von da an “Neue Ausländische Vorstadt" nennen.
3 Die Abneigung und
der Hass der Russen gegen die Katholiken ging auf die Zeit der Wirren und
der polnischen
Intervention zurück.
Unter dem Einfluss der griechisch-orthodoxen Kirche betrachteten die Russen
allmählich alles, was aus Westeuropa kam, als ketzerisch und lehnten
es daher kategorisch ab. Sogar die schlichte Nachahmung des westlichen
Lebensstils, in Kleidung oder in der Einrichtung der Häuser wurde
als Loslösung
vom wahren Glauben angesehen. Jeder Kontakt mit dem spirituellen Leben
des Westens war daher strengstens verboten. Die enge Beziehung zu Byzanz
hatte das russische Volk nach und nach mit antieuropäischen Vorurteilen
"geimpft". Die lange Abneigung gegen die "lateinische Welt"
(römisch-katholisch)
beseitigte vom russischen Entwicklungsprozess die literarischen und philosophischen
Strömungen des Westens.
Mit dem griechisch-orthodoxen Ritus nahmen die Russen von Byzanz natürlich
auch die Grundformen der Architektur, der Malerei und der Mosaikkunst an.
Die westliche Gotik hatte in Russland keine Spuren hinterlassen. Da jede
Abweichung von den Mustern Konstantinopels als Beleidigung der Orthodoxie
ausgelegt werden und den Verdacht der Ketzerei und der Gotteslästerung
wecken konnte, hielten sich die russischen Künstler im Allgemeinen
an die Nachahmung der byzantinischen Meister, ohne es zu wagen diese starre
Tradition zu brechen und ihre eigene schöpferische Kraft auszubreiten.
Durch
das Verwenden des Kirchenslawisch im Dienste Gottes mussten die Geistlichen
kein Latein und Griechisch erlernen, was unmöglich machte, Russland
an der geistigen Bildung zu beteiligen, das wiederum zu einem engstirnigen
geistigen Horizont führte.In diesem Zusammenhang ist auch wichtig
zu erwähnen, dass in der russischen Schrift nicht das lateinische
Alphabet eingeführt wurde, sondern das kyrillische.