Du bist in: Deutsche in Russland > Die Deutsche Vorstadt

Deutsche Siedlungen im Osten
oder
Russland wendet sich nach Westen

(Teil 1 von 2)

 

Iwan IV.
Iwan IV.

Als Iwan IV. erkannte, dass sein Volk in technischen Belangen hinter dem übrigen Europa zurückstand, ließ er aus Westeuropa Spezialisten (Ärzte, Apotheker, Handwerker, Zunftleute, Gelehrte, Techniker, Offiziere, Soldaten, Waffenschmiede, Kanonengießer, Ingenieure und militärische Instrukteure) kommen.

 

So berichtete der venezianische Botschafter Marco Foscarino nach einer Reise in Moskau:

"Der Imperator verfügt jetzt über eine starke Artillerie nach italienischem Muster, die täglich durch deutsche für Sold angeworbene Dienstleute ergänzt wird..."

Nach den Worten von Zeitzeugen wurden den ausländischen Militärangehörigen bereits zu dieser Zeit relativ viele Vorrechte eingeräumt, einschließlich Ländereien und finanzieller Unterstützung zum Bau von Eigenheimen.

Kazan
Kazan

 

 

Mit Hilfe der ausländischen Spezialisten eroberte Iwan IV. die tartarischen Khanate Kasan (Moskau-Kasan-Kriege 1552) und Astrachan (1556) und dehnte damit seine Herrschaft an der Wolga entlang bis zum Kaspischen Meer aus.

 

 

Die deutsche Vorstadt in Moskau im 16. Jahrhundert

Als Lebensraum wurde den ausländischen Fachkräften eine besondere Örtlichkeit am anderen Ufer des Flusses Jausa ca. 2 km nordöstlich vom Zentrum Moskaus entfernt zugewiesen. Da die Mehrheit der Ausländer Deutsche waren, wurde die Ausländervorstadt "Deutsche Vorstadt" (Nemezkaja Sloboda1) oder aber auch spöttisch Sloboda Kukui2 (слобода Кукуй) genannt.

deutsche Vorstadt
deutsche Vorstadt

 

In der Vorstadt lebten jedoch, anders als die häufig vorgenommene Übersetzung "deutsche Vorstadt" nahezulegen scheint, keineswegs nur Deutsche, sondern überhaupt alle Westeuropäer, also auch Holländer, Dänen, Franzosen, Engländer, Schotten, Schweden, Spanier, Italiener u. a. Sie alle wurden im Russischen bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts als nemcy, d. h. als Stumme, des Russischen Unkundige bezeichnet.

In der Sloboda war Hochdeutsch Umgangssprache. Die Bewohner der Sloboda konnten seit deren Gründung nach ihren eigenen Sitten und Gebräuchen leben und ungestört ihren Gottesdienst abhalten. Hier lebten jahrhundertelang deutsche Handwerker und Kaufleute.

 

Der Livländische Krieg (1558-1583)

Brüder der Ritterschaft Christi zu Livland
Brüder der Ritterschaft Christi
zu Livland

Als Russland 1558 im Livländischen Krieg (auch: Erster Nordischer Krieg) die livländischen Städte Narwa und Dorpat einnahm, wurde eine Gruppe lutherischer "Deutscher" (damals war es üblich, alle Menschen, die germanischen Ursprung hatten, als Deutsche zu bezeichnen) aus Dorpat ausgewiesen und nach Russland deportiert.

Iwans Absicht war es, die deutschen Elemente der Gewerbtätigkeit, der Künste und der Industrie nach Russland zu verpflanzen und sie als Lehrmeister für sein Volk zu nutzen. Auf diese Weise bekam er Goldschmiede, Maurer, Schneider, Schuster, Gießer, Schieferdecker, Maler, Brauer usw.

Die Mehrzahl der Gefangenen behielt der Zar in seiner Nähe und wies ihnen einen besonderen Platz außerhalb der Grenze der Stadt Moskau an, wo sie sich niederlassen und zusammen leben sollten; die anderen wurden auf verschiedene Provinzstädte (u. a. Vladimir, Niznyj Nowgorod und Kasan) verteilt.

 

Der bekannte russische Heimatforscher D. N. Smimow bemerkte dazu:

,,Ausländer, Kriegsvolk und Zivilisten, haben sich im Verbannungsort nicht schlecht eingerichtet, sie haben Pferde, Möbel und sogar Diener mitgebracht. Die Verbannten genießen die Bewegungs- und Beschäftigungsfreiheit“.

die deutsche Vorstadt mit Wassermühle
die deutsche Vorstadt mit Wassermühle

 

Als die Einwohnerzahl infolge der Anwerbungen von Fachleuten sowie Verschleppungen von Kriegsgefangenen aus dem Nordwesten Russlands und dem Baltikum um ein Vielfaches angestiegen war, gelang es den Bewohnern der Sloboda "ein geordnetes deutsches Gemeinwesen" aufzubauen. 1570 soll sie schon 4.000 Einwohner gehabt haben.

 

von oben: die Gesamtansicht der Stadt Moskau, St. Nicolas Kirche, St. Michaels Kirche und Russische Reiter
von oben:
die Gesamtansicht der Stadt Moskau,
St. Nicolas Kirche, St. Michaels Kirche
und Russische Reiter

Neben Webereien, Juwelier- und Kleinkunstwerkstätten sowie anderen handwerklichen Betrieben und was erstmalig in Moskau vorkam: Wasser-mühlen am Nebenfluss Jausa entstand im Jahre 1576 die erste evangelische Kirche, die St. Michaelskirche, auf russischem Boden, die aber allerdings vier Jahre später auf Befehl des Zaren Iwan IV. zerstört wurde.

1600 hatte die deutsche Gemeinde bereits drei Pas-toren für den Kirchen- und Schuldienst, und 1601 konnte eine neue Kirche bezogen werden.

 

Der Sonderstatus der Slobodabewohner war wohl kaum allein der Großzügigkeit der Moskauer Herrscher zuzuschreiben. Es ging vielmehr um eine von der orthodoxen Kirche geforderte "Quarantäne" der Andersgläubigen, deren "verderblicher Einfluss" auf die einheimische Bevölkerung sie zu verhindern suchte. Zudem sahen sich die russischen Zaren infolge der Unersetzbarkeit der im Dienst des Kremls stehenden Ausländer zu gewisser Zugeständnissen gezwungen.

 

barrabarrabarra

zurück 1 2 weiter

Anmerkungen

1Nemezkaja Sloboda = in der deutschen Vorstadt lebten Angehörige der verschiedensten Nationen. Nmezkij kommt von nemoj (stumm); so nannte man alle, die nicht des Russischen mächtig waren, später wurde es vor allem auf Deutsche bezogen. Diese Ausländer genossen russisches Bürgerrecht und unterstanden den allgemeinen Gesetzen, hatten aber einige Sonderrechte, z. B. hinsichtlich der Selbstverwaltung und der Glaubensausübung. Letzteres blieb ihnen auch später erhalten. Im 19. Jahrhundert entstand hier ein Viertel reicher Kaufleute und Fabrikanten.
2 Der Name “Kuckui" stammt anscheinend von dem Ausruf des Erstaunens ..kuck hier!", das den deutschen Frauen entschlüpfte. wenn sie etwas in Staunen versetzte. ,.Kuck hier" war aber dem russischen Schimpfwort „chuj" (Schwanz) sehr ähnlich und wurde von den Einwohnern der Vorstadt als Beleidigung empfunden. Daraufhin verbot der Zar den Gebrauch dieses Schimpfwortes unter Androhung der Strafe des Auspeitschens und ließ die Vorstadt von da an “Neue Ausländische Vorstadt" nennen.