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Die Auswanderung der württembergischen Chiliasten

(Teil 2 von 4)

In Harmonien zum Bergungsort

Die Schwaikheimer Harmonie

Die erste Gruppe Auswanderungswilliger waren die aus dem Dorf Schwaikheim im Oberamt Waiblingen, die sich aus Christen rekrutierten, die seit 1812 Gebetsstunden nach altem Brauch abhielten und sich seit 1814 unter Ihrem Vorstand dem Weingärtner Georg Friedrich Fuchs vom öffentlichen Gottesdienst zurückgezogen hatten und ins separatistische Lager übergegangen waren.

Juri Alexandrowitsch Golowkin
Juri Alexandrowitsch Golowkin

1815 gründete Fuchs einen Auswanderungs-verein und nahm Verbindung mit dem russischen Gesandten Juri Alexandrowitsch Golowkin in Stuttgart auf.

Nachdem sie ihre Besitztümer verkauft, auf ihr Bürgerrecht verzichtet hatten und von der russischen Gesandtschaft in Stuttgart die nötigen Pässe erhalten hatten, traten unter der Führung von Georg Friedrich Fuchs rund 40 Familien aus Schwaikheim und Umgebung am 23. September 1816 die Reise ins “gelobte Land“ an.

Die Auswanderung der Schwaikheimer sollte gewissermaßen zum Pionierzug einer regelrechten Emigrationswelle schwäbischer Pietisten in den Jahren 1817/1818 werden. Ziel war der Berg Ararat in Transkaukasien.

Der Reiseweg ins Russische Reich

Es war ein Aufbruch ins Ungewisse, denn über den Kaukasus war nicht viel bekannt und man wusste nicht einmal genau, wo man vom Zaren Land zugeteilt bekommen würde.

Bis zur Sammlungsstelle Ulm gelangten die Auswanderer in Planwagen. Dort wurden sie auf einfachen, bis an die Belastungsgrenze gefüllte Holzkähne, den sogenannten "Ulmer Schachteln1" verschifft, denn wer Anfang des 19. Jahrhunderts den Wasserweg zur Reise nach Wien nutzen wollte, musste sich am Abfahrthafen Schwall in Ulm2 auf einfachen Holzkähnen anvertrauen. In Wien stiegen sie in österreichische Boote um.

die Donau
die Donau

Die mit der Strömung gleitende wochenlange Flussfahrt ging nur sehr langsam voran und so kann man sich gut vorstellen, dass eine längere Reise in diesen “Ulmer Schachteln“ überhaupt nicht komfortabel gewesen sein muss.

Ulmer Schachtel
Ulmer Schachtel

 

von  Ulm aus zogen deutsche Siedler im 18. Jahrhundert auf der Donau nach dem Südosten Europas; ihre Nachfahren kehrten vom Schicksal nach dem 2. Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben in das Land ihrer Väter zurück (Donauschwabenufer in Ulm)
von Ulm aus zogen deutsche Siedler
auf der Donau nach dem Südosten

Schon während der Schiffsreise brachen Krankheiten aus und von Anfang an gab es Todesfälle, die immer mehr zunahmen. Oft durfte nicht einmal das Ufer angelaufen werden.

Weiter ging es über die Balkanhalbinsel, Budapest und Belgrad bis zur bessarabisch-russischen Grenzstadt Ismajil, dem Beginn des Donaudeltas, wo es zum Höhepunkt der Katastrophe kam. Während der 40-tägigen Quarantäne unter freiem Himmel auf einer Donau-Flussinsel, Todesinsel3 genannt, vor der bessarabisch-russischen Grenzstadt Ismajil brachen durch Mangel an Nahrung und sauberem Wasser bald Epidemien aus, denen ein großer Teil der Auswanderer zum Opfer fiel. Nach Augenzeugenberichten waren in Ismajil innerhalb von 24 Tagen 1.328 Menschen gestorben.

 

Über den Dnister gelangten die Schwaikheimer nach Odessa, wo das Fürsorgekontor für ausländische Ansiedler4 bei der Registrierung der Schwaikheimer allerdings feststellte, dass die Einwanderer wieder einmal nicht ihren Erwartungen (100% Bauern und vermögend) entsprachen: von den 49 Einwandererfamilien waren 26 Bauern und 23 Handwerker.

Nach anfänglichem Zögern gab das Ministerkomitee 40.000 Rubel für ihre Ansiedlung im Gouvernement Cherson frei, wo sie am 31. Dezember 1816 in Großliebental bei Odessa ankamen und bei den dort seit 1803 lebenden Deutschen überwinterten.

Nach dieser Erfahrung schickte die russische Regierung ihren Gesandten im Ausland die restriktiven Einwanderungsregeln vom 9. März 1810, nach dem nur “gute Hauswirte“, die Erlaubnis zur Einwanderung erhielten, die Zeugnisse ihrer Obrigkeit und den Besitz von mindestens 300 Reichsgulden vorweisen sollten und schriftlich auf alle Vorschuss- und Entschädigungsgelder ein für allemal verzichten sollten.

 

Hoffnungstal heute
Hoffnungstal heute

29 der 49 Schwaikheimer Familien ersuchten den Zaren in einer Bittschrift nach Transkaukasien (Grusien) weiterziehen zu dürfen. Aufgrund der unsicheren Lage im Kaukasus wollten die russischen Behörden die Kolonisten aber nicht weiterziehen lassen, so dass ein Teil der Kolonisten den Entschluss fasste, 1817 nach Bessarabien zu ziehen, um dort die Mutterkolonie Teplitz zu gründen.

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Anmerkungen

1 Die Ulmer Schachtel, ursprünglich lediglich ein Spottname für die äußerst einfache Konstruktion der Wiener Zille, einem flachbodigen Einweg-Bootstyp, das vom Flusswasser abwärts getrieben wurden und das seit dem Mittelalter auf der Donau der Warenbeförderung diente. Ruder wurden nur zum Lenken, Manövrieren und Bremsen eingesetzt. Am Bestimmungsort angekommen, wurden die Boote abgeschlagen und zum reinen Holzwert verkauft.
Während die Boote anfangs maximal 22 m lang und 3 m breit waren, vergrößerten sich ihre Maße mit der Zeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichten sie Größen von bis zu 30 Meter Länge und 7,5 Meter Breite. Die Bordwand dieser Boote hatte eine Höhe von etwa 1,5 Metern. Auf Deck befand sich eine größere kastenförmige Holzhütte von fünf bis sechs Metern Länge und einer maximalen Giebelhöhe von vier Metern. Bei Warentransporten lagerte hier das Handelsgut und bei Auswanderungen war dies der Wetterschutz der Passagiere.
Vor dem Aufkommen der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft (1829) dienten die sogenannten ”Zillen" der Fortbewegung auf dem Wasser. So auch für die deutschen Auswanderer, die in die Länder des südöstlichen Europas gelangen wollten. Sie schifften sich in Ulm ein und fuhren die Donau abwärts in Richtung Mündung Schwarzen Meeres. Man kann sich auch leicht vorstellen, dass eine längere Reise in diesen “Schachteln“ überhaupt nicht kom­fortabel gewesen sein muss; zudem die mit der Strömung gleitende Flussfahrt nur sehr langsam voran ging.
Die Ulmer Schachtel dient auch heute noch im deutschen und österreichischen Donauraum als Arbeits-, Fischer- und Freizeitboot.

2 Der Aufbruch der Donau entlang begann 1712 mit dem Zug nach Sathmar, setzte sich dann unter Maria Theresia und Joseph II. fort und stand in Konkurrenz zu anderen Auswanderungszielen, wie Amerika, Preußen und Russland. Die Schiffer, die seit Jahrhunderten durch ihre Handels- und Truppentransporte mit der Donau vertraut waren, übernahmen den Transport der Emigranten nach Wien oder weiter nach Ungarn. Im ungünstigsten Fall dauerte die Schiffahrt nach Wien 14-20 Tage. Abfahrthafen war die heute zu Neu-Ulm gehörende Donauinsel – kurz Schwal (http://goo.gl/maps/SZQKy) genannt. An den Abfahrtstagen herrschte dort reger Betrieb. Mit dem Ruf: „Lass aus!“ begann die Fahrt donauabwärts Da die Durchreisenden Kost und Unterkunft benötigten und natürlich die Fahrtkosten für die Schiffsreise auf der Donau bezahlen mussten, war die Auswanderung auch ein nicht zu vernachlässigender wirtschaftlicher Faktor für Ulm. Für die Zeit des Aufenthalts der Emigranten in Ulm standen ihnen zahlreiche Herbergen zur Verfügung. Am meisten profitieren davon die Wirte und Schiffsleute. Der Durchzug tausender katholischer Auswanderer, die der Seelsorge bedurften und vor der Abfahrt noch heiraten wollten oder mussten, ließen sich heimlich im Wengenkloster trauen. Hier wurden vor der Abreise auch viele Kinder getauft, und letztendlich erflehten die Auswanderer in dieser Kirche den Segen Gottes für ihr Wagnis, im Südosten eine neue Existenz gründen zu wollen.

3 Todesinsel = auf dieser Insel waren nach der Eroberung Ismajils durch die russische Armee 1790 (7. Russsich-Osmanischen Krieg von 1787–1792) und 1808 (8. Russsich-Osmanischen Krieg von 1806–1812) die Leichen von rund 20.000 gefallenen Soldaten nur oberflächlich verscharrt worden. Als die erschöpften Auswanderer ihre Zelte aufstellen wollten, stießen sie auf Berge von Skeletten und Knochen, die überall aus der Erde ragten.

4 Das Fürsorgekontor für ausländische Ansiedler war die über die Selbstverwaltung der Kolonien gesetzte staatliche Verwaltungsbehörde und hatte die Aufgabe alle wirtschaftlichen und rechtlichen Probleme zu regeln und "alle gerechten Forderungen der Kolonisten zu befriedigen". 1818 wurde die Verwaltung der Siedler reorganisiert und das Fürsorgekomitee für ausländische Ansiedler in Südrussland gegründet, das bis 1871, also bis zur Abschaffung der Kolonistenprivilegien bestand.