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Die deutschen Siedlungen im Schwarzmeergebiet in der Zwischenkriegszeit

(Teil 1 von 2)

Hungersnot

1920 auf 1921 war in Bezug auf politische Ereignisse ruhiger, aber ein viel größeres Verhängnis brach über die Bevölkerung Russlands herein. Es war das Gespenst der Hungersnot.

Nach der Vertreibung der "Weißen"1 mussten die Bauern fast ihre gesamte Ernte des Jahres 1920 abliefern.
Beschaffungskommandos nahmen Geiseln, damit die Bauern auch ihr möglicherweise verstecktes Getreide herausgaben. Das hatte zur Folge, dass die Bauern im Herbst wenig Winterweizen aussäen konnten, was zusammen mit der Dürre des Jahres 1921 zu einer noch nie dagewesenen Hungerkatastrophe führte.

Es verhungerten erstmalig ca. 5 Millionen Menschen, allein im Schwarzmeergebiet waren es ca. 50.000.

Es kam zu einer spontanen Auswanderung; die Bevölkerungszahl der Deutschstämmigen verringerte sich um 26,5%.

Nach der Festigung der Sowjetmacht ging die Regierung sofort dazu über, ihre Theorien in die Praxis umzusetzen.

gemeinsames Pflügen
gemeinsames Pflügen

Sie ging davon aus, dass die Landwirtschaft nur in Genos-senschaften (Artel2) betrieben werden sollte. So folgte auf das Hungerjahr das „Arteljahr".

Lenin, der die wahren Gründe erkennen glaubte (Fesselung der Eigeninitiative), setzte nun seine ganze Autorität dafür ein, das Zentralkomitee der Partei zu überzeugen, dass eine Neue Ökonomische Politik (NEP), nach dem Motto: „Bereichert euch!“, notwendig sei, die übergangs-weise eine freie Wirtschaft erlauben sollte.

Zeltlager während der Ernte
Zeltlager während der Ernte

Die Verhältnisse ver-verbesserten sich zusehends und in den Kolonien begann ein Aufschwung. Der Bestand an Pferden, Rindvieh und Schafen verdoppelte sich und wuchs weiter an. Die Fläche des zu bearbeitenden Landes brei-tete sich weiter aus, sodass sehr bald Hilfskräfte herangezogen werden mussten, um die Arbeit zu bewältigen. Dazu waren viele junge Russen beiderlei Geschlechts gern bereit, weil sie wussten, vom deutschen Wirt nicht nur gerecht behandelt, sondern auch gut verköstigt zu werden.

eine Schauspielgruppe
eine Schauspielgruppe

Für die heranwachsende deutsche Jugend eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten des gesellschaftlichen Ver-kehrs, der Ausübung jeglicher musikalischer und sonstiger kultureller Betätigungen. Es entstanden Lehrervereinigungen, Gesangvereine, Orchester und Sportlergruppen; deutsche Zeitungen wurden ins Leben gerufen.

In dieser Zeit konnten auch die Pfarrer der Gemeinden jeden Sonntag die reichlich besuchten Gottesdienste halten, konnten Hochzeiten gefeiert werden. Doch diese Aufbauperiode war nur von kurzer Dauer.

in der Schule
in der Schule

Bis 1924 wurde der Lehrer mit „Herr Lehrer“ ange-sprochen, dann wurde das Wort „Herr“ verboten. Anstatt „Herr“ fingen die Schüler an „Onkel“ zu sagen, worauf einige Lehrer sagten: „Ich bin doch nicht dein Onkel.“ Schließlich wurde erlaubt, die Erwachsenen nach der russischen Sitte mit Name und Vorname anzusprechen. Als eine Auswirkung der Revolution wurde die biblische Geschichte aus dem Lehrplan gestrichen und die Gottesdienste verboten.

1927 hatte der Wohlstand in den Kolonien seinen Höhepunkt erreicht. Zu jener Zeit ging in den Dörfern eine staatliche Kommission herum und besichtigte die Bauernhöfe. Die besten Wirte bekamen eine Urkunde als Musterwirte.

Aber dann kam Stalin an die Macht mit seiner radikalen Industrialisierungs-, Zwangskollektivierung3s- und anschließenden Ent-kulakisierungs4politik.

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Anmerkungen

1 Die Weißen (auch: Weiße Armee, Weiße Garde) waren die Truppen der russischen Weißen Bewegung, die im Russischen Bürgerkrieg (1918-1922) gegen die Bolschewiki kämpften und deren Hauptkontrahent waren.
Monarchisten, die das Zarentum wiedererrichten wollten aber auch gemäßigte Sozialisten und Republikaner, die gegen jegliches bolschewistisches Gedankengut waren, vereinigten sich in der weißen Bewegung. Sie alle einte als Grundsatz ihres Handelns: „Russland – vereint, mächtig und unteilbar“.
2 Artel war im zaristischen Russland ein freiwilliger Zusammenschluss von Menschen zur Organisation gemeinsamer wirtschaftlicher Aktivitäten. Die Mitglieder des Artels wählten aus ihrer Mitte einen Anführer (Ataman, Starosta). Erlöse wurden nach vereinbarten Regeln gemeinschaftlich aufgeteilt.

3 Die Zwangskollektivierung wurde unter Stalin nach der strategischen und gewaltsamen "Liquidierung der Kulakenklasse", zwischen 1929 und 1937, durchgeführt. Dafür wurden die sogenannten "Kulaken" ersatzlos enteignet und in unbewohnte Gebiete deportiert oder umgebracht. Mit der forcierten Kollektivierung beendete Stalin die Neue Ökonomische Politik (NEP) und leitete die Zeit der überzentralisierten und bürokratisierten Planwirtschaft ein.
Die Kollektivierung der bäuerlichen Einzelwirtschaften (Bildung von Kolchosen) enstand nach der Oktoberrevolution von 1917 und war bis zum Frühjahr 1928 auf freiwilliger Basis. Es waren hauptsächlich ärmere Bauern und Landlose, die den Kolchosen beitraten. Da die Kollektivierung auf freiwilliger Basis ins Stocken geriet, kam es unter Stalin ab 1929 zur Zwangskollektivierung. Ende 1929 befand sich fast die Gesamtheit des landwirtschaftlich genutzten Bodens der Sowjetunion noch in Privatbesitz. (Okt. 1929: 7,6% der bäuerlichen Haushalte kollektiviert).

4 Die Entkulakisierung war eine politische Repressionskampagne in der Sowjetunion, die sich während der Diktatur Josef Stalins von 1929 bis 1933 gegen sogenannte Kulaken (Großgrundbesitzer) richtete. Verhaftungen, Enteignungen, Exekutionen und Massendeportationen kennzeichneten diese Politik.