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Der Allrussische Bund russischer Deutscher von Odessa

 

Am 28. März 1917, 10 Tage nach der Wahl des provisorischen Orga-nisationskomitees, kam es zu einer allgemeinen Versammlung der in Odessa lebenden Deutschen. Während in der Versammlung vom 18. März noch deutscherseits Bedenken gegen Aktivitäten geäußert wurden, beschloss die Versammlung am 28. März die Gründung eines „Allrussischen Bundes russischer Deutscher1" (Vserossijskij Sojuz russkich nemcev) in Angriff zu nehmen.

Moskau um 1917
Moskau um 1917

Es sollten lokale und Bezirks-Komitees gegründet, Mitglieds-beiträge erhoben, aber auch Kontakte zu den Oktobristen2 Ludwig Lutz3 (Dumaabgeordnete) und Karl Lindemann4, einem langjährigen Kämpfer für die deutschrussischen Interessen, auf-genommen werden.

Um die Arbeit schneller vorantreiben zu können und die Kolonien besser zu informieren und zu organisieren, wurde in Odessa das Wochenblatt „Eženedel'nik" als Organ des Allrussischen Bundes russischer Deutscher herausgegeben.

Wochenblatt 'Eženedel'nik'
Wochenblatt 'Eženedel'nik'

Am 16. April erschien die erste Nummer. Da die deutsche Sprache noch verboten war, erschienen die ersten 11 Nummern in russischer Sprache. Das Wochenblatt informierte über aktuelle Ereignisse, berichtete über die Tätigkeit des Organisationskomitees, über die Versammlungen in verschiedenen Siedlungsgebieten und ab der Nr. 2 wurde über Komiteegründungen in Bessarabien, auf der Krim, in den Gouvernements Nikolajew und Saratow berichtet.

 

Die Gründe zur Bildung des Allrussischen Bundes russischer Deutscher wurde im Odessaer Wochenblatt wie folgt beschrieben:

„Die Regierung des Zaren hatte alle Details für die Zerstörung der Wirtschaften unserer Kolonisten festgelegt, das Innenministerium beraubte uns des Rechtes, in unserer Muttersprache zu beten (weil der deutsche Feind diese Sprache benutzt), das Bildungsministerium hat einen Feldzug gegen unsere Schulen organisiert; man dachte schlecht über uns, man hielt uns für verdächtig; es galt als 'Patriotismus', gewisse Beweise für unseren Verrat zu besitzen; es wurde zu einer alltäglichen, für den normalen Verstand allzu plausiblen Erscheinung, alles, was im Lande und an der Front geschah, dem 'inneren Deutschen' anzulasten.... Das ist es, Mitbürger, .... was wir in den letzten Jahren unter dem Zepter des letzten Zaren ertragen haben. Und was haben wir in dieser Zeit getan? Besaßen wir eine Organistaion zu unserer Verteidigung? Nein. Vereinzelte Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Professor Lindemann, bemühten sich, uns zu Hilfe zu kommen, wir aber erstarrten in Passivität, bei uns gab es keine Einigkeit. Und wenn die Selbstherrschaft nicht unter den Schlägen der Demokratie gefallen wäre, würden wir russischen Deutschen noch immer unter diesen schweren Zeiten leiden."

Eženedel'nik, Odessa, 16. April 1917, Nr. 1 S.3;
"Freiheit für Russland" (Plakat der Kadetten)
"Freiheit für Russland" (Plakat der Kadetten)

Die südrussische Einigungs-bewegung orientierte sich an den politischen Zielsetzungen der Kadettenpartei5 (Konstitutionelle Demokraten) und strebte daher auch die Zusammenarbeit mit den örtlichen Führern der Partei, wie S. F. Stern (Odessaer Verleger und Vorsitzender des örtlichen KD-Komitees von Odessa) und L. K. Welichow (Gebietskommissar von Odessa), an.

Das Komitee, das seine unbedingte Loyalität gegenüber der Provisorischen Regierung aussprach, wurde im Eženedel'nik folgendermaßen beschrieben:

Die Regierung ruft alle Völkerschaften des Landes zum Neuaufbau des Staates auf - deshalb sollen auch wir ans Werk gehen. Die Erziehung unserer Kinder, die Programme unserer Schulen, die Ausbildung unserer Jugend, der zukünftigen Bürger unserer großen Heimat, die Fragen unserer Landwirtschaft - hier liegen die Grundlagen, die uns alle verpflichten zusammenzugehen, Glieder einer Familie zu sein und mit vereinten Kräften der Heimat zu helfen."

Eženedel'nik, Odessa, 16. April 1917, Nr. 1 S.3;

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Anmerkungen

1 aus: Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen, F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München, 1999, S. 78

2 Oktobristen = Mitglieder der Partei “Bund des 17. Oktober”; russische liberal-konservative Partei mit nationalistischer Ideologie, die bis Ende 1917 bestand und aus der Russischen Revolution von 1905 hervorgegangen war. Politisch orientierten sich die Oktobristen an dem von Zar Nikolaus II. am 17. Oktober 1905 infolge des Petersburger Blutsonntags erlassenen "Oktobermanifest" (Abkehr vom autokratischen Herrschaftssystem, Wahl einer gesetzgebenden Volksvertretung (Staatsduma), bürgerliche Grundrechte) und brachten dies mit ihrer Bezeichnung "Bund des 17. Oktober" programmatisch zum Ausdruck. Über das Manifest hinausgehende Reformen lehnten sie ab.
Ihre Anhängerschaft bestand hauptsächlich aus Gutsbesitzern und wenigen Grossindustriellen. In der Bevölkerung waren sie durch eine winzige Minderheit vertreten, auch weil ihr Programm unbestimmt und unklar war. So verweigerten sie nicht-russischen Nationalitäten jegliche Autonomie, verurteilten aber gleichzeitig die Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten.
Zum Zeitpunkt der dritten Duma (1907-1912) stellten die Oktobristen mit 131 Mitgliedern die zweitstärkste Fraktion und unterstützten den Stolypins Versuch der Agrarreform; in der vierten Duma (1912 – 1917) verfiel die Partei. Nach der Februarrevolution 1917 bildete sie mit der Kadettenpartei den progressiven Block der oppositionellen Dumaparteien und war kurzzeitig in der Provisorischen Regierung vertreten. Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki wurde die Partei verboten. Die Oktobristen kämpften dann noch einige Zeit in der Weißen Armee.

3 Ludwig Lutz(geb. 1880 in Waterloo/Gouvernement Cherson) war ein typischer Vertreter der Kolonistensöhne, die sich im Verlaufe ihrer höheren Ausbildung weitgehend assimiliert hatten. Nach dem Besuch des russischen Gymnasiums in Ananjew und dem Jurastudium an der Neurussischen Universität in Odessa war Lutz Semstwo-Abgeordneter und Prokureur-Gehilfe in Odessa geworden. Danach trat er dem Bund des 17. Oktobers (Oktobrist) bei und wurde zum Liebling der oktobristisch orientierten Kolonisten.
Lutz war Abgeordneter in der 2.(1907), 3. (1907-1912) und 4. (1912-10. 3. 1917) Staatsduma Russlands des Gouvernements Cherson. In den Jahren vertiefte sich im jungen Parlamentarier ein Zwiespalt gegenüber seiner Partei, der in der 4. Staatsduma zu eine Zerwürfnis führte: im zweiten Kriegsjahr (1915) stimmte der Oktoberverband den sogenannten Liquidationsgesetzen zu; als Kolonistensohn und Sprecher der Kolonisten wandte sich Lutz nun mit tiefster Enttäuschung vom Oktoberverband ab und strebte ein Bündnis der deutschen Kolonisten mit den Kadetten an.

4 Karl Lindemann, geb. 1884 in Nischni Nowgorod, gründete und leitete er ab 1905 die Moskauer deutsche Gruppe des “Verbandes des 17. Oktober” (Oktobristen), einer konservativ-liberalen Partei. Als kompetenter Landwirtschaftsexperte war er hochgeschätzt unter der Zarenherrschaft und in der Sowjetzeit. Noch vor 1914 trat Lindemann als Verfechter der Rechte der russischen Staatsbürger deutscher Nationalität hervor. Während des Krieges protestierte er entschieden gegen die Gesetze zur Beseitigung des deutschen Landbesitzes in Russland, kritisierte benachteiligende Maßnahmen der Regierung und die antideutsche Stimmungsmache der Presse. Durch persönliche Kontakte zu einflussreichen Politikern und Schriftstellern (z.B. Wladimir Korolenko) versuchte er ebenso wie in mehreren Schriften dem deutschfeindlichen Klima im Land entgegenzuwirken. Nach der Februarrevolution im Jahr 1917 organisierte Lindemann im April und August 1917 in Moskau den „Allrussischen Kongress der russischen Bürger deutscher Nationalität”.

5 Die Partei der Kadetten, eigentlich Partei der Konstitutionellen Demokraten (KD) erhielt ihren Namen nach den russischen Anfangsbuchstaben ihres Parteinamens. Das russische "Kadety" wurde dann zum deutschen "Kadetten".
Die Partei, die sich auch ”Partei der Volksfreiheit” nannte, wurde während des Oktoberstreiks 1905 gegründet, bestand mehrheitlich aus dem linken Flügel der vorherigen Zemstvo-Bewegung und war Anfang des 20. Jahrhunderts eine in der russischen Duma aktive Gruppierung. Die Kadetten verlangten in ihrem Programm: - eine verfas Die Kadettenpartei war eine Anfang des 20. Jahrhunderts in der russischen Duma aktive Gruppierung und nannten sich auch ”Partei der Volksfreiheit”.
Politisch stand die Partei liberalen Gedanken nahe und forderte in ihrem Programm: eine verfassungsgebende Versammlung, allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht, eine vom Parlament abhängige Regierung, Redefreiheit, Ausbau und Demokratisierung der Selbstverwaltung, Agrarreform auf Kosten der Gutsbesitzer (Zuteilung von Grund und Boden an landlose und landarme Bauern), 8-Stunden-Tag, Streikrecht und freie Gewerkschaften, Zugeständnisse an Nationalitäten.
Mit ihrem liberal-demokratischen Parteiprogramm, insbesondere dem Agrarprogramm, hatte die Kadettenpartei unter den Schwarzmeerdeutschen Sympathien. Das Programm sah Landzuteilungen aus einem staatlichen Bodenfonds vor, der aus Staats-, Apanage-, Kron- und Klosterländereien sowie teilweise enteignetem Großgrundbesitz gebildet werden sollte. Für notwendige Enteignungen war eine "gerechte Entschädigung" vorgesehen.
Nach der Machtübernahme der Bolschewiki gingen sie in den Untergrund, um sich mit antibolschewistischen Gruppierungen zusammenzutun. Viele Anhänger flohen ins Ausland oder wurden hingerichtet. 1921 spaltete sich die Partei, als P.M. Miljukov, der Kopf der Partei, sich für eine Angleichung an die Sozialisten Sozialdemokraten, einsetzte. Einst war dies die größte nicht-sozialistische Partei Russlands. Die Parteiführung sah sich bis 1907 als linksliberal, danach orientierte sie sich vermehrt eher nach rechts, um dann später noch weitere Wandel durchzumachen.
Am 28. November 1917 wurde die Kadettenpartei von den Bolschewiken zur „Partei der Feinde des Volkes“ erklärt, verboten und die Verhaftung ihrer Führer angeordnet.