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Das russische Zarenreich im 17. Jahrhundert unter Alexei I.

(Teil 4 von 5)

Die Kirchenreformen des Patriarchen Nikon

Alexei I. von Russland
Alexei I.

In Russland kam es im 17. Jahrhundert, einer Epoche sozialer, ökonomischer und politischer Veränderungen und allgemeiner Deprivation breiter Schichten der Bevölkerung, zu einer Vielzahl von Aufständen.

Nachdem sich die schon lange schwelende Unzufriedenheit bereits 1632 in Weliki Ustjug, 1636 in Moskau und 1639 in Totma in kleineren Unruhen äußerte, erlebte Russland drei Jahre nach der Thronbesteigung des Zaren Alexei Michailowitsch im Jahr

1645 eine Reihe von Aufstandsbewegungen, die sich bis 1650 und darüber hinaus fortsetzten.

Bogdan Chmelnizki
Bogdan Chmelnizki

So kam es im Juni 1648 neben dem Moskauer Aufstand (bekannt auch als Salz-aufstand1), der wie kein anderer Russland erschüt-terte, zu Protesten in anderen Städte. 1648/57 folgte der Chmelnizki-Aufstand und 1650 die Aufstände in Pskow, Nowgorod und Tomsk2.

 

Nikon
Nikon

1652 folgten innere Unruhen im Zusam-menhang mit den Reformen der russisch-orthodoxen Kirche nach griechisch-ortho-doxem Vorbild.

Der Patriarch Nikon hatte eine Revision der alten Kirchenbücher vorgenommen und da er sie an einigen Stellen für die göttliche Lehre als "ketzerisch" betrachtete, ver-besserte er mehreres. Es wurde z.B. behauptet, dass der russische Ritus, wegen Fehlern beim Kopieren der Kirchenbücher, vom griechischen Urtext und Ritus stark abgewichen sei.

Aleksey Kivshenko: Kirchenrat 1654
Aleksey Kivshenko: der Kirchenrat beratet sich über die neuen Reformen

 

Der sich anschließende lange Konflikt schwächte die russische Kirche und trübte ihr Verhältnis zur Regierung.

Sergey Miloradowitsch: die Ruptur des Patriarchen Nikon mit Zar Alexei I.
Sergey Miloradowitsch: die Ruptur des Patriarchen Nikon mit Zar Alexei I.

 

Der Patriarch wurde 1666 auf der Synode der Russisch-Orthodoxen Kirche seines Amtes enthoben, seine Reformen wurden jedoch bestätigt, was annehmen lässt, dass die weltliche und nicht die geistliche Macht der tatsächliche Initiator der eingeleiteten Reformen war. Der Sitz des Patriarchen blieb danach für acht Jahre unbesetzt.

Sergey Miloradowitsch: Gericht über den Patriarchen Nikon
Sergey Miloradowitsch: Gericht über den Patriarchen Nikon

Um welche Reformen ging es eigentlich?

Die zahlreichen Änderungen befinden sich auf ca. 400 Seiten der Mess- und Liturgiebücher. Die Altgläubigen betrachten die folgenden Änderungen als die wichtigsten:

Ausschnitt des Gemäldes von Wassili Surikow: Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (1671)
Ausschnitt des Gemäldes von Wassili Surikow:
Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (1671)
  • Es ging um die Reduzierung der Ver-neigungen zum Erd-boden (Metanien),
  • um die Einführung des vierendigen Kreuzes ne-ben dem weiter verwendeten achten-digen,
  • ob man sich mit zwei (für die 2 Naturen Christi: in eine menschliche und eine göttliche) oder wie die Griechen mit drei Fin-gern (für die Drei-einigkeit: Einheit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist) be-kreuzigen sollte,
  • ob man in der Eucharistie (Abendmahl) sieben oder fünf Prosphoren (eucharistische Brote) verwenden sollte,
  • ob Halleluja zwei oder drei Mal wiederholt werden sollte,
  • ob man in einer Prozession dem Sonnengang folgen sollte oder umgekehrt,
  • ob der Name Jesu mit einem “i” (Isus) oder mit zwei (Iisus) geschrieben werden sollte
  • und zum Schluss durfte man sich nicht die Bärte scheren.

Und das war im Prinzip alles.

Wassili Surikows: 1671, Abführung nach der Verhaftung der Bojarin Morosowa.
Wassili Surikow: Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (1671).
Die Bojarin Morosowa wird in die Verbannung geschickt. Sie zeigt ihren ungebrochenen Geist und belehrt das Volk, wie man "richtig" die Finger zum Kreuzzeichen zusammenzulegen hat: mit zwei - d.h. nicht mit drei - Fingern nach Art der Altgläubigen. Die Bekreuzigung mit zwei Fingern war im Rahmen der Kirchenreformen Nikons abgeschafft worden.

 

Ausschnitt des Gemäldes von Wassili Surikow: Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (1671)
Wassili Surikow: (Ausschnitt)
Die Bojarin Morosowa
auf dem Schlitten (1671)

Der moderne Leser wird diese Ver-änderungen bestimmt als bedeu-tungslos ansehen. Dazu soll aber gesagt werden, dass der Glaube in jener historischen Periode eng mit den Ritualen und Dogmen verbunden war und schon seit der Chris-tianisierung Russlands (988) mit der dogmatischen Wahrheit identifiziert wurde.

Die Reformen lösten eine große Unruhe unter der russischen Be-völkerung aus, besonders das Verbot, Ikonen im inzwischen verbreiteten westlichen Stil zu malen.

Altorthodoxe Kapelle am Ort der Inhaftierung der Bojarin Morosowa
Altorthodoxe Kapelle in Borowsk
am Ort der Inhaftierung der Bojarin Morosowa
(vor 2002 stand hier ein Holzkreuz (siehe unten)

Die vielen Gegner der kirchlichen Reform waren in allen so-zialen Schichten ver-teilt. Es enstand eine Protestbewegung mit dem Namen Raskol (von russisch raskol „Spaltung“).

Der Protest dagegen verband sich mit einer in gewissen Kreisen bestehenden Vorstellung vom be-vorstehenden Ende der Welt und der Herrschaft des Anti-christen. So wurde die orthodoxe Amtskirche und der mit dieser verbundene Staat in der Folgezeit von den meist radikalen Elementen der Altgläubigen mit der Herrschaft des Antichristen gleichgesetzt.

Die 1654 ausbrechende Pest wurde als Zorn Gottes auf den Patriarchen Nikon, den “Antichristen”, interpretiert.

Wassili Surikows: 1671, Abführung nach der Verhaftung der Bojarin Morosowa.
Wassili Surikow: Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (Ausschnitt).
Im Pafnuti-Kloster in Borowsk wurden die Bojarin und ihre Schwester 1675 zu Tode gehungert.

 

Es folgte die Spaltung der Kirche und die Verfolgung der sogenannten Raskolniki (раскольники), bzw. der Schismatiker. Seitdem existieren die Altorthodoxen (auch Altritualisten oder Altgläubigen genannt) getrennt von der Großkirche. Die Orthodoxe Kirche stieß mehrere Anatheme gegen sie aus.

Holzkreuz in Borowsk am Ort der Inhaftierung der Bojarin Morosowa vor dem Bau der Kirche
Holzkreuz in Borowsk am Ort der Inhaftierung
der Bojarin Morosowa vor dem Bau der Kirche

Die Verfolgung der Altgläubigen begann erst 1657 als sich drei Handwerker aus Rostow entschieden weigerten sich den neuen Maß-stäben anzupassen. Sie wurden zunächst ge-foltert und dann nach Sibirien verbannt. Den Altgläubigen wurden alle bürgerlichen Rechte ge-nommen, einige Anhän-ger wurden verhaftet und einige Jahre später hingerichtet. Erst nach 1685 begann in Russland eine groß angelegte Ver-folgung mit Folterungen und Hinrichtungen.

Die Gegner des Neuen fand man auch unter Bojarenfamilien wie Morosow, Chowanski, oder Miloslawski (Familie der 1. Frau von Zar Alexei I.); es waren aber hauptsächlich die ärmeren Menschen diejenigen, die die alte Tradition pflegten, was bewirkte, dass dieser Konflikt nicht nur religiösen, sondern auch sozialen Charakter gewann.

Bojarin Morosowa
Bojarin Morosowa

Die Behörden zusammen mit den Geistlichen versuchten mit Hilfe unmenschlicher Methoden den alten Glauben auszurotten. Überall herrschte grausamer Terror und wer sich der Reform widersetzte, wurde grausam gequält; Zehn-tausende wurden hingerichtet. Die Bojarin Feodossija Morosowa z. B. ließ man verhungern.

Das hatte zur Folge, dass die sogenannten Altgläubigen auf die bisher unbewohnten russischen Gebiete im Süden Russlands ins, bessarabische Donaudelta, flüch-teten, wo sie sich zum Teil den Kosaken anschlossen.

 

Alle aus Westeuropa Stammenden nicht zur orthodoxen Kirche übergetretenen Ausländer mussten Moskau binnen kurzer Zeit verlassen. Sie mussten hinter die Stadtgrenzen Moskaus, am Fluss Jausa ziehen, dorthin, wo früher die alte Ausländervorstadt gelegen hatte, die nunmehr den Namen "Neu-Deutsche" oder einfach "Deutsche Vorstadt" (Novoinozemskaja Sloboda3) bekam.

die deutsche Vorstadt die Deutschen in Moskau
Nemezkaja Sloboda
Nemezkaja Sloboda

 

Ausländervorstädte gab es auch in Wologda, Nischni Nowgorod und Archangelsk. In Schuja befand sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts ein Kaufhof der Engländer.

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Anmerkungen

1Salzaufstand = auch Moskauer Aufstand; als Alexei I. als 16-jähriger den Thron bestieg, übernahm sein Erzieher und Schwager Boris Morosow für ihn die Regierungsgeschäfte. Um die Finanzierung der Südexpansion zu steigern, versuchte Morosow direkte Steuern durch indirekte abzulösen. Zu diesem Zweck ordnete er am 9. Februar 1646 eine Salzabgabe ab, die den ursprünglichen Preis verdreifachte. Außerdem hatte Morosow hohe Ämter mit Vertrauten besetzt, die sich bei der Moskauer Bevölkerung schnell verhasst machten, weil sie, wie es im Reisebericht des Holsteiner Gesandten Adam Olearius heißt, „sehr hungrig, sehr geitzig um sich frassen.“
Der aufgestaute Hass der Bevölkerung entlädt sich am 1. Juni 1648 in einem Volksaufstand. Die gesamte Regierung unter Morosow wurde gestürzt; unter dem Druck der Massen wurd die Einberufung einer Reichsversammlung proklamiert.

2 Aufstand in Pskow und Nowgorod = ähnliche Ausschreitungen ungezügelter Volkswut wie der Salzaufstand von 1648 kamen 1650 in Pskow, Nowgorod und Tomsk vor. Veranlassung dazu war auch hier das unredliche Verfahren der russischen Beamten. Entgegen den Bestimmungen des Friedens von Stolbowo (1617), der den Polnisch-Schwedischen Krieg (1609-1629) vorübergehend beendete, waren ungefähr 50.000 Russen an den damals an Schweden abgetretenen Gebieten ins Russische Reich umgezogen und nicht an die Schweden zurückgeschickt worden. Die Schweden ließen sich diesen Vertragsbruch teuer bezahlen: Für die schuldige Summe von 40.000 Rubel bekamen sie 20.000 Rubel, 10.000 Viertel Getreide (1 Viertel = 210 Liter) aus den zarischen Kornkammern in Pskow und sollten weitere 2.000 Viertel durch Aufkäufer erwerben können, weshalb der Getreidepreis künstlich in die Höhe getrieben wurde. Der Aufstand griff dann auch auf Nowgorod und Tomsk über und wurde militärisch niedergeschlagen. Die Rädelsführer wurden zum Teil zum Tode verurteilt und zum Teil nach Sibirien verbannt.

3 Nemezkaja sloboda = deutsche Vorstadt; obwohl dort Angehörige der verschiedensten Nationen lebten. Nmezkij kommt von nemoj (stumm); so nannte man alle, die nicht des Russischen mächtig waren, später wurde es vor allem auf Deutsche bezogen. Diese Ausländer genossen russisches Bürgerrecht und unterstanden den allgemeinen Gesetzen, hatten aber einige Sonderrechte, z. B. hinsichtlich der Selbstverwaltung und der Glaubensausübung. Letzteres blieb ihnen auch später erhalten. Im 19. Jahrhundert entstand hier ein Viertel reicher Kaufleute und Fabrikanten.