Der Pietismus

der Pietismus entwickelte sich in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur im vom 30jährigen Krieg1 (1618-1648) verwüsteten Deutschland, sondern auch im protestantischen Europa (Schweiz, Niederlande, England, Skandinavien) und dann auch weit darüber hinaus in Nordamerika.

Pietisten
Pietisten
Johann Arndt
Johann Arndt,
der "Vater des Pietismus"

Der Pietismus war die wichtigste Erneuerungs-bewegung innerhalb der evangelischen Kirche, ist einigermaßen verwickelt und ist eine Sammelbezeichnung für viele unter-schiedliche Strömungen (Frömmig-keitsbewegung oder Vor-läufer des Pietismus von 1605 bis 1675 zirka, Frühpietismus2 von 1670 bis 1780 zirka, Spät-pietismus3 von 1780 bis 1800 zirka, Neupietismus4 von 1800 bis 1848 zirka).

Der Pietismus wirkt heute vor allem in den evangelisch-freikirchlichen Gruppen, aber auch in vielen evangelischen Landeskirchen (vor allem in Württemberg) besonders durch die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, die zum größeren Teil innerhalb der Landeskirchen stattfanden.

 

pietistische Frauen um 1890
pietistische Frauen um 1890

Der Begriff Pietismus kommt eigentlich aus dem Lateinischen "pius", was so viel wie fromm und rechtschaffen bedeutet; verwandt damit ist das lateinische Hauptwort "pietas" (pietatis), also Frömmigkeit, und zwar das Streben nach intensivierter, vertiefter Frömmigkeit, was nicht heißt, dass die Strömung des Pietismus in einer Zeit entstand, in der es keine Frommen gegeben hätte.

 

Der Pietismus entsprang also einem Gefühl der "ungenügenden" Frömmigkeit, unzureichender christlicher Lebensführung, dem Drang zur Verifizierbarkeit des persönlichen Glaubens und richtete sich sowohl gegen eine (nach seiner Auffassung) zu entkräftete Glaubenspraxis der sogenannten lutherischen Orthodoxie, d.h. gegen die theologische Strömung und die kirchliche Lehre jener Tage (zurück zur Scholastik).

Martin Luther
Martin Luther

Während sich die Reformatoren um Martin Luther und Philipp Melanchthon kritisch von der Scholastik, der Theologie des Mittelalters, abgesetzt hatten, griffen ihre Nachfolger an den Universitäten (maßgeblich in Wittenberg und Jena) genau diese wieder auf und verwendeten sie für den "Schulstoff" der evangelischen Dogmatik.

Die Pietisten warfen den Theologen vor, sie hätten die zentralen Erkenntnisse der Reformation verschleudert, ihre Lebendigkeit abgetötet und forderten nach der Reformation der Lehre durch Luther nun endlich auch eine wirkliche reformatio des Lebens, also eine Umsetzung der Lehre in die Lebenspraxis, d.h. eine religiöse Durchdringung des Alltags. In den Blickpunkt rückte statt der institutionalisierten Kirche der individuelle Christ und seine persönliche Frömmigkeit.

Einfach gesagt sollte der Glauben als Herzenssache (wieder) zum Zug kommen. Der Grundsatz des Pietismus lautete deshalb: Der Glaube muss vom Kopf ins Herz dringen, er muss gelebt werden (praxis pietatis), d.h. der Glaube muss vom Ort des Verstandes, des Denkens, des Verstehens (Kopf) in den Sitz der Empfindungen und Gefühle (Herz) dringen.

Mose erhält die 10 Gebote
Mose erhält die 10 Gebote

In der pietistischen Bewegung ging es um das persönliche Annehmen der biblischen Botschaft, um lebendiges und persönliches Glaubens- und Gebetsleben, um lebendigen Umgang mit der Schrift im Gegensatz zum "Kopfglauben" in der Zeit der lutherischen Orthodoxie und dann in der Zeit der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert. Außerdem wollte man weg vom auswendig gelernten Lehrsatz-Glauben, weg vom nur moralisierenden "10-Gebote-Glauben" und hin zu einem mündigen und eigenständigen Lebensstil, der aus einer lebendigen Beziehung zu Jesus Christus gespeist werden sollte.

Im Mittelpunkt der Pietisten stand nicht mehr die Rechtfertigung, sondern die Wiedergeburt und die Heilung (Bekehrung) jedes einzelnen Menschen und das Verhältnis des Wiedergeborenen zu Gott wurde als unmittelbare Gotteskindschaft bestimmt. Eine wichtige Bibelstelle, die die Wiedergeburt und die Heilung behandelt ist Johannes 3,3:

Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. (Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.)

Bibelstunde
Bibelstunde

Mit anderen Wiedergeborenen fand er in collegia pietatis (Konventikeln oder Bibelstunden, einfach Stunden genannt), in Kreisen der Frömmigkeit, der typischen Gemeinschaftsform des Pietismus, zusammen. 

Es handelte sich, wie man heute sagen würde, um eine "Hauskreisbewegung", wobei die "Pietisten" sich nicht von der Kirche trennten, sondern als "Kirchlein in der Kirche" ("ecclesiola in ecclesia") existierten, als Kernzelle einer zu erneuernden Kirche, von der aus segensreiche missionarische Ausstrahlungen ("praxis pietatis") auf Kirche und Gesellschaft ausgehen sollten.

Der Pietismus betonte das Priestertum aller Gläubigen und führte neben Theologen auch Laien ohne akademische Bildung, vorrangig Männer, zum Predigtamt ein.

Den Pietisten ging es von Anfang an um „Weltveränderung durch Menschenveränderung“, was sich dann auch auf vielen Gebieten auswirkte: in entstehenden Waisenhäusern, auf dem Gebiet der Diakonie, der Pädagogik (Franke in Halle), auf dem Gebiet der Publizistik, der inneren und äußeren Mission usw.

Die meisten evangelischen Landeskirchen lehnten den Pietismus ab und verboten die collegia pietatis.

vom breiten und vom schmalen Weg
Das Bild „vom breiten und vom schmalen Weg“ spiegelt anschaulich das pietistische Selbstverständnis. Es entstand um 1860 auf Anregung der Stuttgarter Kaufmannsfrau Charlotte Reihlen. Die Stationen am schmalen Weg - Sonntagsschule, Knaben-Rettungsanstalt oder Diakonissenhaus – propagieren ein in den christlichen Glauben eingebettetes, asketisches Leben von der Taufe bis ins Jenseits. Die Stationen am breiten Weg dagegen – Spielhölle, Maskenball und Theater – warnen vor Alkohol und Krieg und stehen für ein sinnentleertes, oberflächliches Leben.

 

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1 Dreißigjähriger Krieg = Sammelbezeichnung für den europäischen Religions- und Staatenkonflikt, der aus dem konfessionellen Gegensatz im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und dem Gegensatz zwischen Habsburgermonarchie und Ständen entstand und auf deutschem Boden 1618-48 ausgetragen wurde. Deshalb sprach man im 17. und 18. Jahrhundert auch vom Teutschen Krieg, um den Raum zu charakterisieren, der millionenfachen Tod, Verwüstung und Barbarei erlitt. Die neuere Geschichtsschreibung deutet das Ganze als Krieg in Europa, weil sich in vielen Ländern Macht-, Religions- und Wirtschaftsprobleme gewaltsam entluden. Es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen in den Niederlanden, zwischen Polen und Schweden, Schweden und Dänemark, Frankreich und Spanien.
Nach den wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen benötigten einige vom Krieg betroffene Territorien mehr als ein Jahrhundert, um sich von dessen Folgen zu erholen.    mehr .....mehr zum 30-jährigem Krieg

2 Chronologisch umfasst der Frühpietismus die Zeit von 1660 bis 1780 zirka und unterteilt sich in reformierter und lutherischer Pietismus.
Der Reformierte Pietismus (1660–1780) um die Theologen Theodor Undereyck und Gerhard Tersteegen in Holland und am Niederrhein bildete sich unabhängig aufgrund der Verbindung mit der Frömmigkeitsbewegung und hat keine Verbindung zum lutherischen Pietismus. Der reformierte Pietismus war innig, mystisch und laienfördernd.
Der Lutherische Pietismus (1670–1780) um den evangelischen Theologen Philipp Jakob Spener war gemeinschaftsliebend und luthertreu.

Diese pietistische Bewegung der Frühzeit lässt sich weiterhin in vier verschiedene Grundrichtungen einteilen:
1. der Hallische Pietismus um den evangelischen Theologen August Hermann Francke war
zuchtvoll, strukturiert und weltverändernd
2. der Radikale Pietismus um den Theologen Paul-Gerhard Buttler war separatistisch und häretisch
3. der Herrnhuter Pietismus um den evangelischen Theologen Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf war ökumenisch und liebevoll mit Weltperspektive und dauert bis zur Gegenwart an
4. der Schwäbische Pietismus um die evangelischen Theologen Johann Albrecht Bengel und Friedrich Christoph Oetinger war tiefsinnig, grüblerisch und kirchennah und dauert bis zur Gegenwart an

3 Ab ca. 1780 bildeten sich Formen des Spätpietismus, die zum Teil, in die Erweckungsbewegungen (Neupietismus) des 19. Jahrhunderts übergingen. Folgende Persönlichkeit haben den Pietismus dieser Zeit stark beeinflusst: Johann Kaspar Lavater, Johann Friedrich Oberlin, Johann Heinrich Jung-Stilling, Matthias Claudius, Johann August Urlsperger und Christian Friedrich Spittler.

4 Anlass der Erweckungsbewegung (Neupietismus) des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich war der Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Napoleon Bonaparte.
Folgende Persönlichkeit haben den Neupietismus dieser Zeit stark beeinflusst: Juliane von Krüdener, die Pastoren Krummacher am Niederrhein, Ludwig Harms in der Lüneburger Heide, Johann Heinrich Volkening im Ravensberger Land, Aloys Henhöfer in Baden und Ludwig Hofacker in Württemberg.