Die Rechtfertigungslehre

Die Rechtfertigungslehre ist ein Grundbegriff der protestantischen Lehre und bezeichnet die wohl wichtigste, grundlegende Erkenntnis der Reformation: Der Mensch ist aufgrund der Erbschuld völlig verdorben und zu keinem guten Werk fähig. Er ist und bleibt Sünder.

Die Kernfrage nach der Rechtfertigung ist nun: Was ist entscheidend dafür, dass das durch die Sünde gestörte Verhältnis zwischen Gott und Mensch in Ordnung kommt? Geschieht das allein aus der von Gott geschenkten Gnade oder aufgrund der guten Werke des Menschen?

Gott wendet sich dem Menschen aus seinem freien Willen heraus in Gnade (sola gratia) zu und deckt seine Sünden zu. Der Mensch bleibt deshalb "simul iustus et peccator", also Gerechter und Sünder zugleich. Seine Rechtfertigung erkennt der Mensch allein im Glauben (sola fide), gemäß dem Römerbrief des Apostel Paulus 3, 22: Die Gerechtigkeit Gottes kommt durch den Glauben an Jesus Christus und 1, 17: denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben. Für den erlösten Menschen gibt es deshalb keine Sünde, die er meiden, und kein gutes Werk, Verdienst, Ablasszahlung u.ä., das er tun müsse, um das Heil zu erlangen. Die guten Werke eines Menschen sind dann Frucht und Folge des Glaubens.

Für die katholische Rechtfertigungslehre wird der Mensch durch die Taufe von der Erbschuld und jeder Sünde befreit. Dank der heilig machenden Gnade ist er Kind Gottes. Er hat Anteil am göttlichen Leben, das ihn zu guten Werken befähigt. Er wird gerettet durch die Gnade Gottes und seine freie Mitarbeit, also durch den Glauben und durch gute Werke.

 

Deutlich wird, dass die katholische Kirche im Unterschied zur evangelischen Position die Rechtfertigung wesentlich im Zusammenwirken von Gott und Mensch sieht. Wenn aber Katholiken und Protestanten von Gnade sprechen, meinen sie unterschiedliches: Die katholische Kirche versteht unter der heilig machenden Gnade eine Erhebung der menschlichen Natur und Teilhabe am Leben Gottes.

Für den Protestantismus, in dem die menschliche Natur als gänzlich verdorben gilt, ist eine derartige Auffassung unannehmbar. Vielmehr wird hier die rechtfertigende Gnade Gottes als "gnädiger Blick" verstanden, den Gott auf den Sünder wirft. Er wird gewissermaßen begnadigt. Eine wesenhafte Veränderung und innere Heiligung aber findet nicht statt, weshalb es in der evangelischen Kirche auch keine Heiligenverehrung gibt.

Für Johannes Calvin war die Rechtfertigung des Menschen, im Zusammenhang mit der Prädestination, gesehen schon im Erfolg, den ein Mensch in seinem Leben erzielen kann, sichtbar und erfahrbar; aus diesem Gedanken entstand ein starker Impuls für die kapitalistische Erfolgsgesellschaft.

In der evangelischen Kirche stellte der Pietismus weniger die Rechtfertigungslehre als die Wiedergeburt durch den Glauben und die Heiligung in den Mittelpunkt seiner Lehre von der Gnade Gottes. Das Konzil von Trient wandte sich gegen die reformatorischen Lehren und hielt bis 1999 an der traditionellen Gnadenlehre von Augustinus (Glaube und gute Werke) fest.

Lehrgespräche zwischen der katholischen Kirche und dem lutherischen Weltbund brachten am 31. Oktober 1999 ein Dokument eines gemeinsamen Verständnisses von der Rechtfertigungslehre zustande, mit dem die Spaltungen der Reformation theologisch überwunden werden könnten.

 

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